Unser Beitrag zur Kundgebung am 18.03.2022 in Karlsruhe!

Einige Anarchist*innen haben sich an der Kundgebung zum Tag der politischen Gefangenen in Karlsruhe beteiligt.

Der inhaltliche Fokus lag dabei bei den Mitstreiter*innen aus Belarus und Russland.

Untenstehend dokumentieren wir den Redebeitrag:

Some anarchists participated in the rally for the Day of Political Prisoners in Karlsruhe.

Our focus was on the comrades from Belarus and Russia. We document the speech below:

Der 18. März als Tag der politischen Gefangenen geht zurück auf die revolutionären Ereignisse in Paris, im Jahre 1871, die als „Pariser Commune„ in die Geschichte eingingen. Es waren die Nachwirren des Deutsch-Französischen Kriegs. Der französische Kaiser war gefangen genommen und die Republik war gerade ausgerufen worden. Viele bildeten sich ein, dass damit ein neues Zeitalter heranbrechen würde, doch in Wahrheit wurde das alte System nur durch eine neue Bande von politischen Betrügern weitergeführt. Desillusioniert von den neuen Herrschenden, kam es an jenem 18. März zum revolutionären Aufstand und Paris wurde über Nacht autonom. Die Stadt entledigte sich der Herrschenden und erfand alles neu. Es gab Essen für die Armen, kostenlosen Unterricht, medizinische Versorgung, eine Trennung von Kirche und Staat, Wahl- und Selbstbestimmungsrecht für Frauen und vieles mehr. Eine Stadt fast ohne jede Verwaltung und eine soziale Revolution.

Der Verlauf der damaligen Ereignisse ist hochkomplex und wird auch heute noch kontrovers diskutiert. Allen die sich für die Hintergründe interessieren kann ich das kürzlich neu aufgelegte Buch „La Commune“ der Zeitzeugin und Anarchistin Louise Michel empfehlen.

Was im Kontext der Pariser Commune oft vergessen wird ist, dass es in jenen Monaten des Aufstandes auch in anderen, größeren Städten wie Marseille oder Toulouse vergleichbare proletarische Aufstände gab und auch dort Barrikaden gebaut wurden.

Doch diese neue, nach den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete Ordnung sollte nicht lange halten. Nach 73 Tagen wurde die Pariser Commune vom Militär mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Innerhalb von nur einer Woche erschoss die Regierung zwischen 20 und 30.000 Communard*innen. Die Blutströme der Massenhinrichtungen färbten die Straßen und Rinnsale von Paris rot.
Tausende Revolutionär*innen wurden in Strafkolonien verbannt oder verschwanden als politische Gefangene in den Kerkern der nun erneut herrschenden Klasse.

Wer glaubt, dass es sich bei diesen Ereignissen um ein längst überwundenes dunkles Kapitel der Geschichte handelt, sei daran erinnert, dass es auch heute eine große Zahl politischer Gefangener gibt, auch wenn dieser Fakt von den Herrschenden nur allzu gerne geleugnet wird. Solange wir unser Dasein als Lohnabhängige und Ausgebeutete in einer kapitalistischen Gesellschaft fristen müssen, solange werden diejenigen, die sich gegen diese Verhältnisse auflehnen, von einer Klassenjustiz kriminalisiert und weggesperrt, deren einzige Aufgabe es ist, eben jene Besitz- und Machtverhältnisse aufrecht zu erhalten. Der Staat an sich ist und war schon in den frühen Formen seiner Entstehung stets auf Gewalt, Ausbeutung und Ausgrenzung begründet. Eine Welt ohne Gewalt, Ausbeutung und Ausgrenzung kann daher nur eine Welt ohne Herrschende, ohne Grenzen und ohne Staaten sein.

Doch heute möchten wir den Fokus auf auf die russischen und belarussischen Anarchist*innen und Antifaschist*innen legen.

Belarus gilt unter der Führung des Stalinisten Lukaschenko als letzte Diktatur Europas. Sein Regime seit 1994 ist geprägt von Wahlfälschungen, Betrug und hemmungsloser Gewalt.
Die ersten großen Proteste gegen den Machthaber gab es 2006, als kurz nach der damaligen Wahl mehr als 10.000 Menschen gegen Lukaschenko auf die Straße gingen – und das trotz Drohungen der Geheimpolizei, die Demonstrant*innen lebenslang in Haft zu bringen.

2020 eskalierte die Situation in Belarus dann erneut. Massenproteste und Streiks waren die Antwort auf die von Manipulation und Repression begleitete Präsidentschaftswahl. Über 33.000 Menschen wurden festgenommen. Aus den Gefängnissen gibt es zahlreiche Berichte über Hunger, Gewalt, Folter und Vergewaltigungen. Scharfe Schüsse auf Demonstrant*innen, Folter und Mord führten schließlich zur gewaltsamen Niedergeschlagung der Aufstände. Dabei wurden zwei Personen erschossen, eine starb im Gefängnis aufgrund unterlassener Hilfeleistung und eine weitere wurde zu Tode geprügelt. Gegen ihre Mörder wurde bis heute kein einziges Strafverfahren eröffnet.

Und alle, die jetzt glauben, der deutsche Staat würde sowas ablehnen oder gar verurteilen, die muss ich leider enttäuschen. Denn die Repressionsbanden Lukaschenkos wurden immer wieder von der deutschen Polizei ausgebildet und mit Waffen versorgt1. Im Mittelpunkt dieser Unterstützung stand stets der „Umgang„ mit Massenveranstaltungen. Das Blut der belarussischen Demonstrant*innen klebt damit auch an den Händen der deutschen Polizei.

Unsere Solidarität gilt den Anarchist*innen und Antifaschist*innen, die in den Kerkern der belarussischen Geheimpolizei eingesperrt sind. Sie gilt all denen, die sich von der Repression nicht unterkriegen lassen und der Kooperation des belarussischen Diktators mit dem russischen Angriffskrieg entgegentreten. Und sie gilt denen, die die Menschen unterstützen, die sich aktuell noch in der Ukraine befinden oder diese bereits verlassen mussten.

Die Zusammenarbeit zwischen Lukaschenko und Putin ist nicht ohne Widersprüche. Auf der einen Seite gibt es eine starke Abhängigkeit von Belarus gegenüber Russland, die maßgeblich aus der Zeit der Sowjetunion her rührt. Bis heute existiert ein Abkommen, das den Zusammenschluss beider Länder ermöglichen soll. Gleichzeitig versucht sich Lukaschenko aber in den letzten Jahren immer wieder von dieser Abhängigkeit zu lösen.
Die militärische Zusammenarbeit beim russischen Überfall auf die Ukraine zeigt aber, dass diese beiden Autokraten trotzdem bestens in der Lage sind zusammenzuarbeiten.

In Sachen Repression gegen die eigene Bevölkerung schenken sich die beiden Staaten übrigens nichts. In Russland ist, ähnlich wie in Belarus, die politische Opposition faktisch komplett zerschlagen. Auch dort ist es traurige Realität, dass politische Gegner ohne mit der Wimper zu zucken ermordet oder in Scheinprozessen eingeknastet werden. Repression, Folter und Gewalt gegen jede kritische Organisierung sind dort leider an der Tagesordnung.

Doch die aktuellen Proteste gegen die Invasion in der Ukraine zeigen, dass sich nicht alle Menschen widerspruchslos unterkriegen lassen. Unsere Solidarität gilt all denen, die sich weiterhin Putins autoritärem Regime und seinen Schergen entgegen stellen. Und unsere Solidarität gilt Grigoriy Sinchenko, der sich seit Jahren dem Kampf gegen die russischen Separatisten in Donezk verschrieben hat und dafür im russischen Knast gelandet ist. Sie gilt Evgeny Karakashev, Pavel Krisevich, Kirill Kuzminkin und all den anderen inhaftierten russischen Anarchist*innen und Antifaschist*innen.

Ihre Namen und die Hintergründe ihrer Inhaftierung könnt ihr übrigens auf den Seiten des Anarchist Black Cross Belarus und Moskau finden. Dort findet ihr auch Möglichkeiten ihnen Briefe zu schreiben oder zu spenden.

Aber obwohl wir heute unseren Fokus auf unsere Gefährt*innen in Belarus und Russland gelegt haben, vergessen wir weder heute noch an anderen Tagen unsere anderen Mitstreiter*innen.

Wir denken an Jan, Ella und Lina. Wir denken an Jo und Dy. Und wir denken an die unzähligen kurdischen Genoss*innen, die der deutsche Repressionsapparat mit dem Vorwurf der „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ zum Schweigen bringen will. Getroffen hat es einzelne, gemeint sind wir alle!

Als Anarchist*innen gilt unser Augenmerk jedoch nicht nur den politischen Gefangenen, sondern allen Menschen, die sich hinter Gittern befindenden. Als Weggeschlossene sind sie ihres sozialen Wesens in hohem Maße beraubt und dem Repressionsapparat schutzlos ausgeliefert. Diese Entmachtung und alltägliche Demütigung können Häftlinge gegenüber der gesamten Gesellschaft verbittern. Zerrissene Sozialverbindungen, der Verlust des Eigentums, die folgende Arbeitslosigkeit, sowie das Brandmal der Exgefangenen machen es zusätzlich schwerer diese Menschen nach ihrer Entlassung wieder in unsere Gesellschaft zu integrieren. Von allen Funktionen, die die Befürworter*innen von Gefängnissen immer wieder anführen, ist die Rehabilitation daher die Funktion, bei der sie am meisten versagen.

Unsere Kritik gilt daher nicht nur den Knästen selbst, sondern ebenso dem Justizsystem, das diese füllt. Einem System, das Bestrafung und Rache über Wiedergutmachung stellt, das Gewalt mit Gegengewalt beantwortet. Ein System, das sich darauf beruft, im Namen der Opfer zu agieren, aber gleichzeitig fast nichts tut, um den Schaden der Opfern zu beheben sondern lediglich in ihrem Namen Rache ausübt. Diesem System muss heute am Tag der politischen Gefangenen, aber auch an allen anderen Tagen, unsere schärfste Kritik gelten.

Aus diesem Grund sagen wir:

Freiheit für ALLE Gefangenen!
Feuer und Flamme ALLEN Knästen!
Und hoch die antinationale Solidarität!

1 Bundestag Drucksache 17/10727, 17. Wahlperiode 2012


March 18 as Political Prisoners‘ Day goes back to the revolutionary events in Paris, in 1871, which went down in history as the „Paris Commune“. It was the aftermath of the Franco-Prussian War. The French Emperor had been captured and the Republic had just been proclaimed. Many imagined that this would usher in a new era, but in truth the old system was merely perpetuated by a new band of political impostors. Disillusioned with the new rulers, a revolutionary uprising occurred on that March 18 and Paris became autonomous overnight. The city got rid of the rulers and reinvented everything. There was food for the poor, free education, medical care, a separation of church and state, suffrage and self-determination for women, and much more. A city almost without any administration and a social revolution.

The course of events at that time is highly complex and is still controversial today. To all those interested in the background, I can recommend the recently reissued book „La Commune“ by contemporary witness and anarchist Louise Michel.

What is often forgotten in the context of the Paris Commune is that in those months of the uprising there were also comparable proletarian uprisings in other, larger cities such as Marseille or Toulouse, and barricades were built there as well.

But this new order, based on the needs of the people, was not to last long. After 73 days, the Paris Commune was crushed by the military with brutal force. Within just one week, the government shot between 20 and 30,000 Communards. The streams of blood from the mass executions stained the streets and gutters of Paris red.

Thousands of revolutionaries were exiled to penal colonies or disappeared as political prisoners in the dungeons of the now once again ruling class.

For those who believe that these events are a dark chapter of history that has long since been overcome, it is worth remembering that there are still a large number of political prisoners today, even if this fact is all too readily denied by the ruling class. As long as we have to eke out our existence as wage-earners and exploited in a capitalist society, those who rebel against these conditions will be criminalized and locked up by a class justice system whose sole task is to maintain the very conditions of ownership and power. The state in itself, even in the early forms of its emergence, is and was always based on violence, exploitation and exclusion. A world without violence, exploitation and exclusion can therefore only be a world without rulers, without borders and without states.

But today we would like to focus on the Russian and Belarusian anarchists and antifascists.
Belarus, under the leadership of the Stalinist Lukashenko, is considered the last dictatorship in Europe. His regime since 1994 has been characterized by electoral fraud and unrestrained violence.
The first major protests against the ruler took place in 2006, when more than 10,000 people took to the streets against Lukashenko shortly after that year’s election – despite threats by the secret police to imprison the demonstrators for life.
In 2020, the situation in Belarus escalated again. Mass protests and strikes were the response to the presidential election, which was accompanied by manipulation and repression. Over 33,000 people were arrested. There are numerous reports from prisons of hunger, violence, torture and rape. Sharp shots at demonstrators, torture and murder ultimately led to the violent suppression of the uprisings. In the process, two people were shot, one died in prison for failure to render aid, and another was beaten to death. To this day, not a single criminal case has been opened against their murderers.
And all those who now believe that the German state would reject or even condemn such things, I must unfortunately disappoint them. Lukashenko’s repressive gangs have been trained and supplied with weapons by the German police time and again1. The focus of this support was always the „handling“ of mass events. The blood of the Belarusian demonstrators is thus also on the hands of the German police.
Our solidarity goes to the anarchists and anti-fascists who are imprisoned in the dungeons of the Belarusian secret police. It is for all those who do not let the repression get them down and who oppose the cooperation of the Belarusian dictator with the Russian war of aggression. And it is for those who support the people who are currently still in Ukraine or have already had to leave.

The cooperation between Lukashenko and Putin is not without contradictions. On the one hand, there is a strong dependence of Belarus on Russia, which stems largely from the Soviet era. To this day, an agreement exists that is supposed to allow the two countries to join forces. At the same time, however, Lukashenko has repeatedly tried to break away from this dependence in recent years.
However, the military cooperation in the Russian invasion of Ukraine shows that these two autocrats are nevertheless perfectly capable of working together.
When it comes to repression against their own populations, the two states do not give each other anything in return. In Russia, as in Belarus, the political opposition has been completely crushed. There, too, it is a sad reality that political opponents are murdered without batting an eye or imprisoned in mock trials. Repression, torture and violence against any critical organization are unfortunately the order of the day there.
But the current protests against the invasion of Ukraine show that not all people allow themselves to be subdued without resistance. Our solidarity goes to all those who continue to oppose Putin’s authoritarian regime and his henchmen. And our solidarity goes to Grigoriy Sinchenko, who has dedicated himself for years to the fight against the Russian separatists in Donetsk and ended up in Russian jail for it. It goes to Evgeny Karakashev, Pavel Krisevich, Kirill Kuzminkin and all the other imprisoned Russian anarchists and antifascists.
By the way, you can find their names and the background of their imprisonment on the pages of the Anarchist Black Cross Belarus and Moscow. There you can also write letters to them or donate.

But although today we have put our focus on our comrades in Belarus and Russia, we do not forget our other comrades, neither today nor on other days.

We think of Jan, Ella and Lina. We think of Jo and Dy. And we think of the countless Kurdish comrades who the German repressive apparatus wants to silence with the accusation of „forming a terrorist organization“. It has affected individuals, it means all of us!

As anarchists, our attention is not only directed to the political prisoners, but to all people who are behind bars. As locked away, they are deprived of their social essence to a high degree and are at the mercy of the repressive apparatus without protection. This disempowerment and everyday humiliation can embitter prisoners in relation to society as a whole. Torn social ties, loss of property, subsequent unemployment, and the branding of ex-prisoners make it additionally more difficult to reintegrate these people into our society after their release. Of all the functions that prison advocates repeatedly cite, rehabilitation is therefore the one in which they fail the most.

Our critique is therefore not only of prisons themselves, but also of the justice system that fills them. A system that places punishment and revenge above reparation, that answers violence with counter-violence. A system that claims to act in the name of the victims, but at the same time does almost nothing to repair the damage done to the victims, but merely exercises revenge in their name. It is to this system that today, on Political Prisoners Day, but also on all other days, our strongest criticism must be directed.

For this reason we say:
Freedom for ALL prisoners!
Fire and flame ALL prisons!
And up the anti-national solidarity!

1 Bundestag Printed Matter 17/10727, 17th Election Period 2012