Laut dem Unterstützungsnetzwerk Solidarity Zone, welches von Repression betroffene Partisan*innen in Russland begleitet, wurden seit Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine mindestens 310 Anschläge auf Nachschublinien, militärische Einrichtungen und Fahrzeuge, sowie politische Einrichtungen in Russland verübt.
International bekannt geworden ist die Gruppe BOAK, die sich anarchokommunistische Kampforganisation nennt, selbst militante Aktionen durchführt und Menschen unterstützt, die sich an solchen Aktionen beteiligen möchten.
Menschen aus dem Anarchistischen Netzwerk ANIKA aus Karlsruhe haben ein Interview zu den Hintergründen und Sichtweisen von BOAK auf den Krieg in der Ukraine geführt.
Wollt ihr zunächst etwas über euch und eure Ideen erzählen?
Wir sind die anarchokommunistische Kampforganisation ( russisch: Boyevaya Organizatia Anarcho Kommunistov – BOAK).
Unsere Organisation wurde vor etwa 6 Jahren von Menschen gegründet, die seit längerer Zeit Teil der anarchistischen Bewegung sind. Eines unserer Mitglieder und Begründer ist Dimitry Petrov, der Ende April im Kampf gegen die russische Invasion gestorben ist. Er ist ein Beispiel für diejenigen, die unsere Organisation gegründet haben.
Wir sind Anarchist*innen – wir denken, dass die Gesellschaft nach anarchistischen Ideen neu organisiert werden muss und kann – sie sollte nach den Prinzipien der Gleichwertigkeit, Selbstverwaltung und direkter Demokratie organisiert sein. Die Kontrolle über die Wirtschaft soll in den Händen der Arbeiter*innen liegen, die Menschen sollen im harmonischen Einklang mit der Natur leben und es sollten die Prinzipien des Internationalismus, Antimilitarismus und so weiter gelten.
Unseren Erfahrungen, theoretischen und praktischen Erkenntnissen nach, ist eine solche Gesellschaft nur durch eine soziale Revolution zu erreichen – die Staaten und Regierungen, die sich uns entgegenstellen und versuchen werden, uns auf diesem Weg zu stoppen, müssen überwunden werden.
Das sind die Gründe, warum wir unsere anarchistische Organisation gegründet haben – wir bereiten uns auf diese Revolution vor und führen diese durch.
Die Organisation hilft uns, uns selbst und anderen zu helfen, unsere Kräfte zu bündeln, um gemeinsam gegen die Unterdrückung vorzugehen und diesen Kampf zu gewinnen. Und somit den Weg zu einer leuchtenden Zukunft zu ebnen.
Könnt ihr uns etwas über die politische Situation in Russland und anderen postsowjetischen Staaten in den letzten Jahren erzählen?
Der russische Staat hat seine Macht verdichtet und beseitigte alle, die sich dem in den Weg stellen. Mit beseitigen meinen wir töten, foltern oder ins Gefängnis sperren.
In den letzten Jahren gab es auch mehrere große Strafverfahren gegen die anarchistische Bewegung – der Fall „theNet“, der Fall der Kinder aus Kansk, der „Fall Tumen“ und weitere.
In all diesen Fällen verhaftete die Polizei Aktivist*innen, folterte sie, um sie zu zwingen, das zu sagen, was für sie selbst und andere Menschen notwendig ist, und schickte sie für lange Jahre in Gefängnisse, selbst wenn die Folterungen offensichtlich waren.
Es gibt auch mehrere Fälle gegen Gewerkschaften und Aktivist*innen, die mit Menschen arbeiten, wie Kirill Ukraintsev [Anm.: Gewerkschaftsführer der russischen Gewerkschaft „Kurier“].
Gleichzeitig wurde die Macht der Polizei, des Geheimdienstes FSB und anderer staatlicher Strukturen ausgebaut. Und bei unterschiedlichsten Verbrechen erhalten sie Immunität gegen Menschen.
All das wird benutzt, um Geld für die Regierung und die Machthaber zu verdienen – der Staat tötet die Medizin, die Bildung, die Natur und so weiter.
Jede Form von „legalem“, offenem Protest ist derzeit untersagt – es ist nicht möglich einen Protest gegen die Machthaber zu organisieren.
Zudem gibt es einen Putin-Kult in den staatlich kontrollierten Medien – sie sagen, dass es „kein Russland ohne Putin gibt“ und so weiter. Und sie versuchen, die Menschen daran glauben zu lassen.
Zur Situation in Belarus:
Nach den gewaltsam niedergeschlagenen Protesten im Jahr 2020 wird Belarus im Sinne der internationalen Politik als ein Teil Russlands wahrgenommen.
Im Sinne der lokalen Politik hat Belarus jedoch seine eigenen Repressionsstrukturen, die für die Macht von Lukaschenko arbeiten – und von ihm in jedem Ausbruch von Gewalt unterstützt werden.
Könnt ihr uns auch etwas über die linksradikale und anarchistische Bewegung in Russland sagen (über kommunistische, sozialistische und anarchistische Gruppen und Ideen)
Gegenwärtig ist die linke Bewegung in der Russischen Föderation größtenteils in den tiefen Untergrund getrieben und betreibt entweder verdeckt militant kämpfende oder agitatorische Aktivitäten. Von den großen anarchistischen Vereinigungen (abgesehen von der BOAC) können wir sicherlich die Autonome Aktion erwähnen, die sich auf Agitation und Bildungsaktivitäten konzentriert. Von den kleineren Gruppen die „Exposition des radikalen Anarchismus“ (die auch verdeckt militant kämpfende Aktionen organisiert).
Von den uns nahestehenden linken Gruppen und Organisationen ist der Feminist Anti – War Resistance zu nennen, die Antikriegsagitation und -propaganda betreiben.
Unter den anderen Genoss*innen im linken Lager können wir einige Marxist*innen ausmachen, die uns zwar nicht hundertprozentig nahe stehen (wir haben Meinungsverschiedenheiten über die Rolle der Partei oder des Staates beim Aufbau der Gesellschaft und die Rolle der Selbstorganisation der Menschen in ihr), teilen aber eine Position gegen Militarismus und Putin und sie engagieren sich für den Schutz und die Entwicklung der Arbeiter*innenbewegung, zum Beispiel für die Entwicklung unabhängiger Gewerkschaften, wie die Gewerkschaft Courier, eine Gewerkschaft der Marxist*innen.
Es gibt auch genug Pseudo-Linke, die sich Linke nennen, aber in Wirklichkeit rot-braune Faschisten sind, die ausschließlich die Sowjetunion bewundern, so wie sie ein Imperium war, und jene Errungenschaften der linken Bewegung leugnen, die irgendwo in dieser lagen.
Die russische Regierung rechtfertigt die Invasion in der Ukraine damit Nazis und Faschisten bekämpfen zu wollen. Teilweise auch mit nationalistischen, rassistischen und vielleicht auch faschistischen Ideen. Was denkt ihr über die Hintergründe des Krieges?
Wir glauben, dass die Ursache des Krieges sowohl der beklagenswerte Zustand der russischen Wirtschaft und die wachsende Krise (verursacht durch eine inkompetente, diebische Führung) als auch das in dieser Hinsicht gesunkene Ansehen der Führung war. Und der Wunsch, diese Probleme mit einem „kleinen siegreichen Krieg“ zu lösen, wie es im Russischen Reich üblich ist.
Sowie die völlige Degradierung des Regierungssystems des Landes, das Falschmeldungen sowohl über den Zustand der russischen Armee als auch über die Stimmung in der Ukraine fabriziert hat, was zu Vertrauen in einen leichten Sieg führte und die Russische Föderation in einen Krieg hineingezogen hat, aus dem sie sich nicht mehr zurückziehen kann, so dass sie versucht, irgendwie herauszukommen, aber eher nach dem Zufallsprinzip zieht – vielleicht wird etwas passieren, das unsere Probleme auf einmal löst, aber im Moment wird das alles auf einen späteren Zeitpunkt geschoben.
Nun, eine große Rolle spielte die Persönlichkeit Putins selbst, der sich in seinem Alter als Sammler russischer Ländereien vorstellte und als Mann in die Geschichte eingehen wollte, der das russische Reich wiederherstellte.
Was denkt ihr darüber, dass die Nato Russland zu diesem Krieg gedrängt hat?
Unserer Meinung nach hat dies sehr wenig mit der Realität zu tun. Das Ausmaß darüber, wie unvorbereitet die NATO auf die Ereignisse war – wie langsam die Ressourcen für die Ukraine zugewiesen wurden, wie lange alle Fragen zur Unterstützung koordiniert wurden – legt nahe, dass es keine Vorbereitung auf einen bedingten Angriff auf die Russische Föderation gab, auf den eine „präventive Invasion“, wie uns die russischen Behörden einzureden versuchen, durchgeführt wurde.
Eine Diskussion ist nicht mehr notwendig, wenn wir so über die Tatsache sprechen, dass die Russische Föderation die Ukraine als eine Zone ihrer Interessen betrachtet und auf die angebliche Stärkung des NATO-Einflusses dort reagiert hat, einige sprechen auch über den Beitritt der Ukraine zur NATO in einer unbekannten Zukunft.
Das ukrainische Volk ist frei und unabhängig von Russland, und die Tatsache, dass Russland die Ukraine als sein Erbe bezeichnet hat, spricht nur von seinem Imperialismus und seiner tyrannischen Natur, seiner Unfähigkeit zu verhandeln
und für beide Seiten vorteilhafte Lösungen zu finden.
Wir haben einiges über Sabotageakte gegen militärische Infrastrukturen gelesen. Seht ihr euch als antimilitaristische Organisation?
Ja, wir vertreten kategorisch antimilitaristische Positionen. Wir glauben, dass Kriege in der menschlichen Gesellschaft überwunden werden sollen und keine Lösung für irgendwelche Probleme sein können. Gleichzeitig stehen wir für das Recht auf Selbstverteidigung und sind der Meinung, dass der Aggressor, also Russland, gestoppt werden muss, damit er nicht von seiner Aggression profitiert, damit er nicht denkt, dass er in Zukunft auch mit militärischen Mitteln etwas Gutes für sich erreichen kann.
Seit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion in der ukraine gibt es viele Diskussionen über Antimilitarismus und Waffenlieferungen in die Ukraine. Was sagt ihr dazu?
Wir unterstützen die Lieferung von Waffen an die Ukraine, weil dies in der gegenwärtigen Situation das geringere Übel ist. Wir glauben nicht, dass die ukrainische Regierung eine gute Sache ist. Und unsere Unterstützer*innen haben in der Zeit vor dem Krieg direkte Aktionen auf dem Gebiet der Ukraine organisiert. Wir wissen jedoch mit Sicherheit, dass die Ukraine ohne Waffenlieferungen besiegt werden wird, und die Niederlage der Ukraine – und der Sieg Russlands – ist ein eindeutiges Übel und eine Bedrohung sowohl für das ukrainische als auch für das russische Volk, das noch stärker unterdrückt werden wird als zuvor, und eine Bedrohung für den Weltfrieden.
Gleichzeitig glauben wir nicht, dass die Ukraine so sehr erstarken sollte, um ein neuer Hegemon im postsowjetischen Raum zu werden (wir glauben allerdings, dass diejenigen, die ihr Waffen schicken, auch nicht so denken).
Einige Menschen sehen in der Unterstützung der Territorialverteidigungskräfte auch die Unterstützung der nationalen Regierung in der Ukraine. Einige Menschen möchten statt einer nationalen Armee lieber die Arbeiterkklasse unterstützen, um eine soziale Revolution voranzubringen. Wollt ihr euch zu diesem Thema äußern?
Natürlich glauben wir, dass die Unterstützung der Arbeiterklasse und der sozialen Revolution das ist, was wir anstreben sollten. Das Problem dabei ist, dass in der gegenwärtigen Situation die Niederlage der ukrainischen Verteidigungskräfte zur prinzipiellen Zerstörung der Arbeiterbewegung führen wird und dadurch die Möglichkeit, eine soziale Revolution sowohl in der Ukraine als auch in Russland zu organisieren, für viele, viele Jahre nicht mehr gegeben sein wird. Hier können wir uns die Ereignisse in Belarus im Jahr 2020 als Beispiel in Erinnerung rufen. Als ein Teil der belarussischen Kommunist*innen sich weigerte, die Demonstrant*innen zu unterstützen, weil sie ideologisch nicht rein genug waren, und die Protestierenden gingen, den Kommunist*innen nach, für eine „demokratische“ Opposition auf die Straße, deren Auftrag von dem Auftrag der Arbeiter*innenklasse abwich. Nachdem er die demokratische Opposition besiegt hatte, zerstörte Lukaschenka die gesamte Arbeiter*innenbewegung, um sie nicht zu verärgern.
Deshalb muss man in realen und nicht hypothetischen Situationen seine Verbündeten so wählen, dass man zuerst das größere Übel besiegt, das, wenn es siegt, die Freiheit vollständig ersticken wird – damit man nach seinem Sieg seine Ideale unter den Bedingungen einer gewissen Freiheit entwickeln kann.
Wie ist die Situation innerhalb der russischen Gesellschaft? Zu Beginn der vollumfänglichen Invasion haben wir ein paar Proteste gegen den Krieg gesehn. Viele Menschen wurden verhaftet. Gibt es noch sichtbaren Protest?
Wenn es sich um einen öffentlichen Protest handelt, dann ist dieser praktisch zerstört. Selten, sehr selten gehen Menschen mit ukrainischen Fahnen auf die Straße (was einen Antikriegsprotest symbolisiert). Man kann jedoch nicht sagen, dass die Gesellschaft erdrosselt ist. Anstelle eines unmöglichen öffentlichen Protests wenden sich die Menschen dem Guerillakrieg zu, fügen der Regierung Putin wirtschaftlichen Schaden zu und greifen militärische Einrichtungen an. Hauptziele der Angriffe sind Eisenbahnobjekte – ein Gehäuse mit Ausrüstung, der den Warenverkehr verlangsamt und der Russischen Föderation wirtschaftlichen Schaden zufügt. Aber auch militärische Gebäude und Rekrutierungszentren.
Leider werden viele Partisan*innen erwischt, weil sie aus einem edlen Impuls heraus handeln und ihre Handlungen nicht immer gut durchdenken. Wir sehen jedoch (und tragen dazu bei), wie sich die Partisan*innenbewegung entwickelt, und immer größere Gruppen von Partisan*innen beginnen, überlegter zu handeln, Pläne auszuarbeiten – und bleiben dadurch länger frei und kämpfen weiter.
Lasst uns einen Blick in die Zukunft werfen. Was sind eure Wünsche, Ängste und Träume? Seht ihr die Möglichkeit einer positiven Entwicklung, gibt es progressive Akteure?
Beginnen wir mit den Ängsten. Unsere größte Befürchtung ist wahrscheinlich, dass Russland standhalten wird. Dass Putin die westliche Gemeinschaft irgendwie unter Druck setzen wird, dass sie, der Unterstützung der Ukraine überdrüssig, diese stoppen und sie zwingen wird, einen Friedensvertrag zu einigen bestehenden Bedingungen zu unterzeichnen. Dass Russland in der Lage sein wird, dies als seinen Sieg darzustellen, zumindest für den heimischen Verbraucher, um die Aufhebung einiger Sanktionen zu erreichen, und das russische Volk weiter zu tyrannisieren. Und sich auf einen neuen, noch blutigeren Krieg vorzubereiten.
Aber wir hoffen, dass dies nicht geschehen wird. Dass militärische Niederlagen – wie schon so oft in der Geschichte – die russische Gesellschaft erschüttern, ihr die Schwäche der Regierung und die Möglichkeit einer freien revolutionären Kreativität vor Augen führen. Dass die Menschen sich zusammenschließen und das Joch dieser Vergewaltiger abwerfen – und beginnen, ihr eigenes Schicksal selbst zu gestalten – in einer friedlichen, hellen und freien Gesellschaft.
Und wir arbeiten daran, diesem Traum näher zu kommen und ihn Wirklichkeit werden zu lassen.
Wie kann man euch unterstützen?
In erster Linie wollen wir dazu beitragen, Informationen über die Befreiungs- und Partisanenbewegung in Russland zu verbreiten, darüber, für welche Ideale wir kämpfen und mit welchen Methoden. Wir glauben, dass unsere Erfahrungen nicht nur im postsowjetischen Raum nützlich sein können, sondern auch in der ganzen Welt.
Sie können sich auch anarchistischen Freiwilligeneinheiten anschließen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen – oder sich für die Unterstützung solcher Einheiten engagieren.
Sie können Ihre Regierungen beeinflussen, indem Sie sie davon abhalten, sich mit dem Putin-Regime zu versöhnen, um ihm nicht die Mittel zu geben, uns zu zertrampeln.
Sie können russische und pro-russische Unternehmen angreifen, wenn es solche in Ihren Ländern gibt.
Und es ist auch möglich, den Revolutionären Anarchistischen Fonds zu unterstützen, den wir geschaffen haben, um die Partisan*innenbewegung zu unterstützen und zu entwickeln, um neue Partisan*innengruppen zu unterstützen, indem wir ihnen Geld für Kleidung und Mittel zur Durchführung von Aktionen – Benzin und Öl, Dünger und Werkzeuge – zur Verfügung stellen.
https://t.me/rev_anarchy_fond/9
Anarchismus in Karlsruhe
anika.noblogs.org
Das Interview wurde in englischer Sprache geführt und ins Deutsche übersetzt.