Wir haben den Text einer Aktivistin erhalten, die ihre Gedanken und Gefühle zur aktuellen politischen Lage aufgeschrieben hat:
Vor anderthalb Wochen hat die Hamas aus mörderischem Antisemitismus Menschen ermordet und entführt. Seit einer Woche gehen in mir viele Gefühle durch den Körper, es bewegen mich täglich unterschiedliche Gedanken dazu. In diesem Text habe ich einen Versuch gestartet, diese zusammen zu fassen.
Ich wusste nicht wie ich meinen Text anfange und bei den ganzen Überlegungen kam ich zu dem Ergebnis meine Gefühle niederzuschreiben. Mein Wunsch ist es für eine Welt zu kämpfen, in der es keine Hierarchien gibt, in der Macht abgebaut ist, in der externe Zwänge nicht mehr existieren, in der alle Menschen gleich und frei sind. An diesem Punkt sind wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht angekommen, und wie politische Ereignisse momentan sichtbar machen, könnten wir davon auch noch weit entfernt sein.
Zwischen Empathie und Frustration über die aktuelle politische Lage, legt sich auch immer wieder Wut, Sprachlosigkeit und Unverständnis gegenüber Aussagen von Menschen.
Ich bin wütend und frustriert darüber, wie die Auseinandersetzung über den Nahostkonflikt in Deutschland abläuft, ob in der medialen Berichterstattung, unter politischen Gruppen, die sich als links beschreiben oder auch wie Rechte für sich die Debatte auslegen.
All die Wut kann ich mir nur damit erklären, dass sich in Deutschland, entgegen dem Eindruck der dauerhaften Behandlung des Nationalsozialismus, nie bewusst und intensiv mit der Shoa auseinandergesetzt wurde. Geschichtserzählungen fanden und finden in der Regel aus der Brille der Täter statt. Dabei ist das Ziel der „Erinnerungskultur“ nicht eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Taten, sondern die Wiedergutwerdung Deutschlands und eine Normalisierung des deutschen Nationalismus. Dies führt dazu, dass Stimmen, die gesellschaftlich und institutionell zum Opfer von Verfolgung und Ermordung wurden, nicht gehört werden. Das Rauschen der Tätererzählung ist so laut, dass alle anderen Stimmen unter den Tisch fallen. Man ruht sich darauf aus, dass ganz Deutschland verziehen wurde, weil Deutschland eine so intensive Erinnerungskultur betreiben würde und somit die Taten des Nationalsozialismus in Vergessenheit geraten sind. Somit wurde dem neuen deutschen Staat verziehen und alles sei wieder gut.
Dabei wurden die Menschen der Gesellschaft nicht ausgetauscht. Wie sollte das auch gehen? So lebte das Menschenbild des Nationalsozialismus in Deutschland weiter. Die Rassenideologie war nach 1945 nicht weg und genau so waren die systematische Queerfeindlichkeit und der Antisemitismus nicht weg. Die deutsche Bevölkerung hat einen Vernichtungskrieg gegen jüdische Menschen und andere „nicht arische Bevölkerungsgruppen“ ausgelebt und auf perfide Art und Weise auf die Spitze getrieben. Der Fakt, dass die Shoah stattgefunden hat, kann und darf niemals relativiert werden. Mit Ende des 2. Weltkrieges und mit Gründung des Staates Israel, hat der Antisemitismus nicht aufgehört zu existieren. Antisemitismus ist immer noch aktuell, Vernichtungsrufe sind aktuell, antisemitische Bilder sind aktuell. Die Annahme, dass Weltgeschehnisse von einer vermeintlichen Elite beeinflusst werden, sind antisemitisch und leben aktuell in unzähligen Verschwöhrungserzählungen. Antisemitismus existiert weltweit und wird täglich reproduziert und produziert. Ich bin wütend auf diese tödliche Form der Menschenfeindlichkeit.
Nach 1945 wurde der Antisemitismus in Deutschland (egal ob DDR oder BRD) nur externalisiert. In der DDR wurde gesagt, dass die BRD voller ehemaligen Nationalsozialisten sei (was zum großen Teil stimmte) und daher nur dort der Antisemitismus sein könne. Die DDR hat sich somit auf die Seite des Widerstandes während des Nationalsozialismus gestellt, wobei bei weitem nicht die gesamte Bevölkerung frei von den Gräueltaten war und in der DDR ebenso wie in der BRD der größte Teil der Bevölkerung während der NS-Zeit auf der Seite der Täter stand.
In der BRD wurde der Antisemitismus immer wieder auf „ausländisch“ beschrieben Gruppen übertragen. Hauptsache die deutsche Bevölkerung kann sich in Unschuld und Aussagen wie „das ist ja lang her“ beruhen. Konservative und Rechte leben durch diese Aussagen ihren Rassismus aus. „Ausländischen oder/und muslimischen Menschen“ wird auf moralischer Weise vorgeworfen, dass nur sie antisemitisch handeln würden und nur diese Gruppe den Antisemitismus nach Deutschland bringen würden. Ja, es existiert ein muslimisch getragener Antisemitismus, der auch aktiv ausgelebt wird, jedoch gibt es in Deutschland noch alle anderen Facetten des Antisemitismus, der in gleicher Form tödlich ist und der aktiv von rechten und konservativen gelebt und vorangetrieben wird.
Auch wird in rechten Foren, Medien und Berichterstattung davon gesprochen, dass nur der Islam misogyn sei und dies auch am Beispiel der Hamas belegt sei. Dem sei gesagt, Frauenfeindlichkeit und Queerfeindlichkeit gibt es auch in Deutschland von nicht religiösen und/oder christlichen Personen. Wobei eine Religionskritik immer berechtigt ist. Die Menschenfeindlichkeit hat weniger mit einer spezifischen Religion zu tun als vielmehr mit patriarchalen Strukturen, die in jedem Bereich der Gesellschaft vorhanden sind. Ich bin wütend darüber, dass nur der Islam als misogyn dargestellt wird, obwohl alle Gesellschaften und Religionen Frauen- und queerfeindlich sind.
Antisemitismus existiert auch in Gruppen, die sich selbst als links bezeichnen. Zum Ausdruck kommt dies oft in einer verkürzten Kapitalismuskritik, die mit Verschwörungserzählungen verknüpft wird. Es wird das Kapital als eine Übermacht, als etwas Geheimnisvolles dargestellt. All dies sind antisemitische Bilder, die dadurch produziert und reproduziert werden. Im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt verschmilzt diese Erzählung oft mit weiteren antisemitischen Bildern. Mich macht es wütend mit Menschen darüber diskutieren zu müssen, denen ich vermeintlich näherstehen sollte. Doch stellt sich heraus, wie weit wir voneinander entfernt sind. Ich bin jedes Mal aufs Neue erschüttert, was ich in manchen Chatgruppen lesen muss, und muss meist ein zweites Mal darüber lesen, da ich es nicht glauben kann.
Ich bin wütend darüber, dass in Deutschland, die Aktionen der Hamas dafür genutzt werden um Rassismus gegenüber muslimischen Menschen in Deutschland auszuleben und den islamistischen Antisemitismus für antimuslimischen Rassismus zu instrumentalisieren. Menschen, die muslimischen Glaubens sind, sind nicht automatisch Islamist*innen. Ich stelle mich entschieden gegen jeden Rassismus.
Ich lehne Staaten und ihre Grenzen ab und strebe zur gleichen Zeit eine Welt an, in der sich Menschen frei bewegen können, in der der eine Pass keine Rolle spielt und keine Pflicht mehr ist. Auch strebe ich an, dass Nationalstaaten nur noch in Geschichtsbüchern auftauchen und sich alle wundern, warum Menschen auf die Idee kamen Staaten als gut zu empfinden. Ich strebe es an, dass jede*r Mensch sich frei und ohne Schikane und Gewalt auf dieser Welt bewegen kann. Nationalgrenzen hindern Menschen daran frei zu sein. Menschen in Pässe mit und ohne Privilegien und Reisefreiheiten einzuteilen, ist eine große Ungerechtigkeit, die ich nicht hinnehmen kann. Jeder Mensch hat das Recht zu fliehen, sich frei zu bewegen und die Welt zu erkunden, wenn er dies für sich möchte.
Ich kann verstehe, dass es den Staat Israel als Schutzraum für jüdischen Menschen geben muss. Wäre der Antisemitismus mit seinen mörderischen Auswüchsen auf der restlichen Welt nicht existent bräuchte es auch den Staat Israel nicht. Aber in dieser Welt ist er alternativlos. Würde es den Staat Israel nicht geben, kann es zu weltweiten Vernichtungstendenzen gegenüber Juden*Jüdinnen kommen. Davor habe ich Sorge und Angst. Ich bin wütend darüber, dass ich dadurch gezwungen werde einen Staat in seiner Existenz verteidigen zu müssen. Die Regierung Israels ist rechts-konservativ, und schränkt viele Freiheitsrecht von Menschen auf dem israelischen Staatsgebiet ein. Gegen die Regierung gab es vor dem Krieg viele Proteste von Seiten der Bevölkerung, doch mit den aktuellen Ereignissen wurde die Regierung gestärkt.
Darüber bin ich wütend.
Ich sehe viel Kritikpunkte an den real existierenden Demokratien, doch sehe ich auch viele positive Aspekte. Im Gazastreifen regiert die islamistische Hamas das Gebiet, die fast alle Freiheitsrechte von Menschen einschränkt und mit Gewalt ihre Macht erhält. Die Hamas ist nicht freiheitlich, sie hat eine Diktatur errichtet, in der es den Menschen im Gazastreifen schlecht geht. Ich bin wütend darüber, dass die Hamas und deren Ziele mit einem vermeintlichen Freiheitskampf oder gar einem antikolonialen Kampf gleichgesetzt wird. Die Hamas stimmt in keiner Weise mit meinem Freiheitsbegriff überein und hat keineswegs Freiheit der Menschen zum Ziel. Was ist eine Freiheit wehrt, die die Freiheit anderer Menschen abspricht, die das Existenzrecht anderer abspricht. Die Hamas ist eine islamistische und terroristische Vereinigung, mit dem Ziel das jüdische Leben und jeden Israeli umzubringen. Ich bin fest der Annahme, dass wenn Palästinenser*innen frei von Zwängen entscheiden könnten, sie sich für eine freie Gesellschaft entscheiden würden. Die Zahlen der Toten, die im Gazastreifen täglich ansteigen, sind für mich kaum vorzustellen, ich bin voller Mitgefühl und täglich in Gedanken bei den Familien und Freunden der Verstorbenen.
In der letzten Woche habe ich immer wieder mit jüdischen Freund*innen gesprochen, auf sozialen Medien deutsche und internationale jüdische Stimmen angehört und ich kann mir kaum vorstellen welche Gedanken und Gefühle sie haben. Ich kann mir nur vorstellen, dass all die Erfahrungen gruppenbezogener Gewalt der letzten Jahrhunderte, die jüdische Communities erleben mussten, immer wieder in die nächste Generation übertragen wurden. Mein volles Mitgefühl gilt den Angehörigen und Freund*innen der Verstorbenen in Israel. Ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben, mein Bauch ist flau, ich bin enttäuscht über vorherige Generation in Deutschland, die es nicht geschafft haben den Antisemitismus abzuschaffen.
Am Ende komme ich immer wieder zu dem Ergebnis, dass jedes Menschenleben, dass stirbt eines zu viel ist, egal welcher Gruppe man angehört.