Kritik in Zeiten des „Ausnahmezustandes“

Von Ausnahmezuständen will hierzulande eigentlich niemand so gerne reden. Lieber wird von Verordnungen, Vernunft und Appellen gesprochen.

Doch nach und nach zeigt sich, dass die Verpackung zumindest in Teilen eine Mogelpackung ist. Mit der Begründung der Vernunft wird inzwischen immer deutlicher, dass autoritäre Strukturen keine Möglichkeit auslassen, um ihre Macht und Willkür auszuüben.
Ein viel größeres Desaster scheint jedoch zu sein, dass jegliche Kritik an den auferlegten Verordnungen und deren Ausläufern inzwischen von einem großen Teil der Bevölkerung grundsätzlich zurückgewiesen wird. Ein Ansatz, der es der Autorität nicht mal mehr abverlangt ihre Autorität durchzusetzen. Die Bevölkerung untergibt sich selbst.

Dabei ist es gerade in diesen Zeiten wichtiger denn je wachsam zu sein. Es sind die Zeiten der Notverordnungen, die stets Spuren hinterlassen. Und es sind genau die Zeiten der sichtbaren Krisen, die die Kritik an bestehenden Verhältnissen verdeutlicht und aufzeigt; deshalb sind es genau diese Zeiten, in denen die Kritik am anschlussfähigsten ist und die Chance der Veränderung am Größten. Und genau deshalb sind diese Zeiten auch diejenigen, in denen Kritik von den Mächtigen nicht gerne gehört wird.

Außer Frage steht, dass besondere Situationen einen besonderen Umgang fordern. Kontaktvermeidung, Isolation und vor allem Schutz sind auf Grund der Ausbreitung des Corona-Virus geboten. Die Unsicherheit in Bezug auf dieMaßnahmen, die ergriffen werden sollen, welche wirksam sind oder nicht, rührt daher, dass es nur wenige Erkenntnisse über das Virus gab und bis heute nicht genug Erkenntnisse vorhanden sind. Genau deshalb ist es wichtig, gewisse Maßnahmen zu treffen und deshalb ist große Vorsicht angesagt. Es geht um Menschenleben.
Doch genau deshalb ist es auch wichtig, diese Maßnahmen stets zu hinterfragen und ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Es ist wichtig zu überprüfen, ob Maßnahmen allgemeingültig vertreten werden können, oder sie in Teilen lediglich als Kontrollmechanismus genutzt werden.

Die aktuelle Krisensituation zeigt viele Baustellen innerhalb unserer Gesellschaft und ihrer Wirtschaft auf. Es sind die Standbeine unserer Gesellschaft, die Lebensmittelindustrie und das Gesundheitswesen, die seit Jahren vernachlässigt werden. Es ist der Anteil der Frauen, die diese Standbeine in erster Linie tragen, deren gesellschaftliche Stellung noch immer zweitrangig und oberflächlich ist. Und es ist der latente Nationalismus, Rassismus und der Neoliberalismus, der die Menschen verschieden bewertet. Mal auf Grund ihrer Herkunft, mal auf Grund ihres Aussehens und mal auf Grund ihres sozialen Standes.
Es gibt kaum Zeiten, in denen diese Problematiken deutlicher sind und in denen sie zumindest von so vielen wahrgenommen werden. Und genau deshalb ist es um so wichtiger, diese Problematiken jetzt aufzugreifen und zu kritisieren.

Doch genau das ist nicht gewünscht.

Auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes werden Demonstrationsverbote verhängt, selbst wenn sich an die angeordneten Verhaltensregeln und Schutzmaßnahmen gehalten wird. Protestbekundungen in der Öffentlichkeit werden so schnell entfernt, dass sie kaum wahrnehmbar sind. Selbst Proteste von Einzelpersonen werden unter absurdesten Begründungen untersagt, Personalien festgestellt und Schilder beschlagnahmt. Eine Rechtsgrundlage für dieses Vorgehen gibt es nicht. Gerichte weisen Eilanträge aus Kapazitätsgründen oder bestehender Unsicherheit ab. Der Willkür sind Tür und Tor geöffnet.

Es ist nicht sehr verwunderlich, dass die ersten Maßnahmen, die eingeführt wurden, Grenzkontrollen waren. Die zweiten waren die Beschränkungen öffentlicher Räume. All dies ist das Standardrepertoire der Innenministerien. Gerade der Innenminister Baden-Württembergs Thomas Strobel, der erst vor kurzem verlauten lies, wie wichtig Krisensituationen für ihn sind, um seine angestrebten Überwachungsmaßnahmen durchzusetzen zeigt, dass er von einer kritischen Auseinandersetzung nicht viel hält.
Zunächst schickte er Bundespolizist*innen an die griechische Grenze, an der auf Flüchtende geschossen wurde, um sie am Übertritt in die EU zu hindern. Es folgten die Wiedereinführungen der Grenzkontrollen an den Grenzen zu Frankreich und der Schweiz. Inzwischen wurde gar ein zweiter Grenzzaun an der schweizer Grenze gezogen, um die Zusammenkunft von Lebenspartnern zu unterbinden. Anschließend forderte Strobel gar den Einsatz der Bundeswehr, um die angeblich überarbeitete Polizei zu unterstützen. Der Einsatz der Bundeswehr ist in der BRD auf Grund ihrer Vergangenheit lediglich für Katastrophenfälle vorgesehen. Für Strobel können diese nicht schnell genug eintreffen.
Inzwischen patrouilliert die Polizei in den Innenstädten, gar mit Reiterstaffeln in den Grünanlagen oder Hubschraubern mit Wärmebildkameras. Hohe Busgelder drohen beim Verstoß gegen die Maßnahmenverordnungen. Deren Interpretationsspielräume werden durch die Polizei bis zum unsäglichen ausgedehnt, ohne Kontrolle durch Gerichte, Politik und einen großen Teil der Gesellschaft. Diesen Teil hat sich die Exekutive zum Handlanger gemacht. Die Aufrufe des Innenministers Strobel und des Ministerpräsidenten Kretschmann verhallen nicht. Tausende von Anzeigen hagelt es, obwohl von offizieller Stelle stets gesagt wird, dass die Regelungen meist eingehalten werden.

Die Zeiten der sichtbaren Krisen können die Zeiten der Durchsetzung autoritärer Mechanismen sein. Dies geschieht, wenn die Bevölkerung nicht wachsam bleibt, nicht wachsam gegenüber denen, die die Hebel in Gang setzen, stattdessen wachsam gegenüber denen, die sie kritisieren.
Die Zeiten der sichtbaren Krisen können aber auch Zeiten der Veränderung sein. Dafür müssen aus der Wahrnehmung von Missständen Forderungen für die Zukunft entstehen.
Dass Forderungen nach Lohnanpassungen, Umstrukturierungen und Gleichstellung wirken können, muss die Kritik jetzt aufgenommen und verdeutlicht werden.
Ganz öffentlich wird die Umgehung von Mindestlöhnen in der Landwirtschaft propagiert und dabei trotz Grenzschließungen 80.000 Arbeiter*innen nach Deutschland geflogen. Offensichtlich dienen Finanzspritzen lediglich der Wirtschaft und nicht der Menschen und offensichtlich sollen mit Bonuszahlungen Arbeiter*innen, Pfleger*innen und andere Lohnabhängige zufrieden gestellt werden, um im Anschluss weiter zu machen wie vorher.

Die Politik sieht sich in dieser Krise nicht in der Lage Probleme grundsätzlich anzupacken und verweist stets auf die Zeit danach. Sie sieht sich offensichtlich trotzdem in der Lage autoritäre Strukturen mit ungewissem Ausgang auszubauen und versucht dabei jegliche Kritik abzuweisen. Es gibt jedoch keinen Grund Kritik grundsätzlich zu unterschlagen.

Es liegt an allen, diese Kritik, bei Wahrung aller notwendigen Maßnahmen, hoch zu halten. Aus der sichtbaren Krise zu lernen und Umstrukturierungen in der Wirtschaft und der Gesellschaft zu fordern und umzusetzen.