Im Februar erschien der Artikel „Gegen den Ausverkauf der Stadt und die Politik der Verdrängung in Karlsruhe“. Thema war der Verkauf städtischer Räume und Flächen in Karlsruhe an die GEM Ingenieurgesellschaft mbH Müller + Partner, deren Mehrheitseignerin die CG Gruppe AG ist. Mit dem Verkauf wird der Raum für viele kleine Gewerbetreibende, aber auch für ca. 100 Bands und für selbstverwaltete Kunst- und Kulturzentren, wegfallen. Ersatzlos.
Wenn man diesen Vorgang zum ersten Mal wahrnimmt, schießen Gedanken in den Kopf wie: „Ok, das klingt schlecht, aber die Stadt wird schon wissen, was das Beste für die Gesamtheit der Bürger*innen ist.“ Oder auch: „Ok, arme Bands, aber hey, die Stadt lässt doch ihre Jugend und Kreativen und so nicht im Stich, die wird schon für Ersatz sorgen.“ Und dann liest man auf der Website der GEM, dass am 05.10.2016 ein Workshop stattfand zum städtebaulichen Rahmenplan des Areal C, unter Beteiligung des Stadtplanungsamtes. 2016, das ist 4,5 Jahre her! Seitdem gibt es keine Angebote zu alternativen Flächen und Räume seitens der Stadt Karlsruhe laut Artikel. Krass.
Langsam wallt das Gefühl auf, dass die Stadt andere Interessen vertritt, als die der Verdrängten.
Diese Feststellung zieht im Bauch. Der Kopf kann vielleicht noch abwiegeln und behaupten, dass die Entscheidung der Stadt bestimmt so viel Gutes für die Bewohner*innen von Karlsruhe bringen wird, dass das Gute das Schlechte des Verkaufs überwiegen wird. Der Bauch weiß: diesmal sind es diese Menschen, nächstes Mal vielleicht ich.
Es ist verständlich, wenn eine Stadt Entscheidungen auf Grundlage verschiedener Interessen treffen muss. Aber kein Interesse darf Grundbedürfnisse der Stadtbewohner*innen überwiegen, deren Leben direkt mit der Entscheidung verbunden sind.
Doch wie kommt es zu solchen Entscheidungen? Warum bietet die Stadt den Betroffenen keine alternativen Flächen und Räume an? Vielleicht, weil keine vorhanden sind. Vielleicht, weil zum Zeitpunkt der Entscheidung zum Verkauf niemand nachgeschaut hat, ob Ersatzflächen vorhanden sein würden. Damit wird zu Ausdruck gebracht: wir wussten, als die Entscheidung zum Verkauf getroffen wurde, dass keine alternativen Flächen und Räume vorhanden sind bzw. war es uns egal. Wir haben trotzdem so entschieden. Ihr Verdrängten seit uns egal.
Wenn es so gelaufen wäre, hätte sich in den letzten 4,5 Jahren doch mehr Protest zusammengefunden, oder? Warum kämpfen die Menschen nicht für ihre Stadt? Warum zucken die meisten Menschen nur mit den Schultern, wenn sie vom Verkauf ohne Ersatzflächen hören, obwohl sie selbst gerne auf dem Gelände des Areal C auf Konzerte gegangen sind oder nette Leute kennen, die in den betroffenen Bands spielen?
Im Sommer 2020 wurde auf dem Gelände der P8, in Kooperation mit dem Cafe Noir der Film „Ungleichland“ über die Machenschaften der CG Gruppe AG gezeigt. Es kamen einige Interessierte, vor allem junge Menschen, aber auch erfahrene Wohnprojektler von der MiKa. Es wurde bis spät abends über den Ausverkauf von Städten geredet. Was am Ende des Abends blieb, war laut einigen Jüngeren ein Gefühl von Ohnmacht. Hilfesuchend wurden die anwesenden Wohnprojektler der MiKa befragt, was zu tun sei, um z.B. eine MiKa 2.0 ins Leben zu rufen. Die Antwort war: machen. Etwas machen, anfangen, protestieren, Wohnprojektgruppen gründen, sich mit „der Stadt“ anlegen, Interessen verteidigen. Die jungen Menschen zuckten mit den Schultern. Damals sei alles leichter gewesen. Heute ginge das alles nicht mehr so einfach. Ein Mensch von der MiKa antwortete: damals war es auch schwer, aber wir haben es riskiert.
Tatsache ist: Hartz-Reformen, Privatisierung von staatlichem Wohneigentum, wirtschaftsliberale Steuergesetzreformen und, und, und – heute riskiert man materiell viel mehr, wenn man für eigene Interessen kämpft. Mal ein Jahr von Stütze leben, um ein Wohnprojekt voranzutreiben? Heute sicherlich schwieriger, als damals. Im Studium mal ein, zwei Semester Module und Prüfungen verpassen, um politisch aktiv zu sein? Jup, kann man machen, kann dann aber auch sein, dass man direkt aus dem Studiengang fliegt. Der Freiraum der Menschen wird enger, auch wenn sie es nicht realisieren. Nicht nur der materielle Freiraum, auch der Freiraum für eigene Gedanken, für das Ausbilden einer Haltung, ohne die niemand protestieren geht, schrumpft, wird überlagert von Zeitdruck, Erfolgsdruck, Konsum, Sachzwängen.
Erich Fromm hat in „Die Seele des Menschen – ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen“ beschrieben, was passiert, wenn eben dieser Freiraum nicht vorhanden ist. Der Mensch wird zum Automaten. Wer Automat ist, sieht andere Menschen auch als Automaten, als Gruppen von Dienstleistern, als Gruppen von Verbrauchern, als Gruppen von Konkurrenten, als Gruppen von verdrängten Musiker*innen – nicht aber als Individuen. Der Mensch wird den Menschen zum (toten) Ding.
Und genau hier könnte der springende Punkt liegen, warum Proteste klein bleiben, warum Menschen nicht für Ihre Bedürfnisse kämpfen, obwohl es heute vielleicht wichtiger wäre denn je, obwohl viele von ihnen materiell doch noch gut genug aufgestellt sind:
Menschen kämpfen nicht für Ihre Bedürfnisse und Wünsche, wenn sie keine Liebe zum Leben, zum Lebendigen spüren. Und diese Liebe zum Leben braucht Freiraum, Freiheit, wie Fromm in o. g. Text verdeutlicht:
„Zusammenfassend ist zu sagen, daß sich die Liebe zum Leben am besten in einer Gesellschaft entfalten wird, wenn darin folgende Voraussetzungen gegeben sind: Sicherheit in dem Sinn, daß die materiellen Grundlagen für ein menschenwürdiges Dasein nicht bedroht sind, Gerechtigkeit in dem Sinn, daß niemand als Mittel zum Zweck für andere ausgenutzt werden kann, und Freiheit in dem Sinn, daß jedermann die Möglichkeit hat, ein aktives und veranwortungsbewußtes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Der letzte Punkt ist besonders wichtig. Selbst in einer Gesellschaft, in der Sicherheit und Gerechtigkeit herrschen, kann die Liebe zum Leben sich nicht entwickeln, wenn in ihr nicht die kreative Selbsttätigkeit des einzelnen gefördert wird. Es genügt nicht, daß die Menschen keine Sklaven sind; wenn die gesellschaftlichen Bedingungen zur Existenz von Automaten führen, wird das Ergebnis nicht Liebe zum Lebendigen, sondern Liebe zum Toten sein.“
Eine erschütternde Selbsterkenntnis zu der ganzen Sache: ich selbst habe beim Lesen des Artikels über den Verkauf des Areal C an Bands gedacht, an eine Gruppe Gewerbetreibende, an ein Kunstkollektiv – aber nicht an Anna*, die das Gefühl, das sie beim Spielen ihrer Bassgitarre hat, jede Woche braucht, um genug Kraft zu haben, ihren Alltag anzugehen. Hätte ich an Anna gedacht, hätte ich ihr helfen wollen, ihr als Person. Ich hätte sie gefragt, wie ich ihr helfen kann. Und dann wären wir zu zweit vielleicht auf die Idee gekommen, uns einer Demo anzuschließen oder eine ins Leben zu rufen. Wir wären als Menschen in Kontakt gekommen, so wie es die vielen selbst betroffenen „Annas“ und ihre Freund*innen tatsächlich gemacht haben und wir hätten etwas gemacht. So aber habe ich den Artikel gelesen, die ganze Sache als sehr schade befunden, an den Goodwill der Entscheidungsträger*innen mehr oder weniger geglaubt und den Artikel (fast) abgehakt.
Dass die Menschen keine aktiven und verantwortungsbewussten Mitglieder der Gesellschaft sind, dass sie keine Freiräume in Form von Zeit und Orten haben, um solche zu werden, dass sie durch Bürokratisierung weiten Teilen des Lebens nur in gleichen, engen Bahnen leben können und andere Menschen dadurch nicht als Individuen betrachten (können), ist zusammengenommen also eine mögliche Erklärung, warum laute, große Proteste von (diesmal) nicht direkt betroffenen Menschen fehlen.
Menschen, die einander nicht als Individuen sehen (können), Menschen, die Totes mehr lieben (müssen), als Lebendiges – wie kann sich das ändern? Sich der eigenen Behinderung, der eignen Unfreiheit bewusst zu werden, ist der erste Schritt.
*Name frei erfunden