Ein paar Leute aus Karlsruhe haben im Oktober unter dem Namen „Solidarische Perspektiven – statt Krisen und Vereinzelung“ eine Veranstaltungsreihe in der Stadt Karlsruhe und im Café Noir organisiert. Ich bin zu allen Veranstaltungen, außer der Videokundgebung, gegangen. Corona hatte mich in dieser Zeit glücklicher Weise verschont. Insgesamt lässt sich sagen: ich hatte interessante Gespräche mit neuen Leuten, hatte Einblick in deren Lebensrealitäten und Denkweisen, und konnte sogar ein verbindendes Element in allen Veranstaltungen finden. Es hat sich gelohnt, hin zu gehen.
Die Veranstaltungen hatten ganz unterschiedliche Themen, in den Diskussionen lief es aber interessanter Weise aus allen thematischen Richtungen immer wieder auf eine Sache hinaus: „Selbst“ war das Schlüsselwort. Ob als Selbstermächtigung, selbsthandelnd oder selbstbestimmt – einmal von einem Problem betroffen oder von einer Idee zur Änderung der Verhältnisse inspiriert sollte jede*r sich selbst für die Lösung einsetzen, mit anderen zusammen, solidarisch, das ist bei mir nachdrücklich hängen geblieben. Wer die Verantwortung für das eigene Leben abgibt, lebt fremdbestimmt.
Nachfolgend möchte ich die besuchten Veranstaltungen aus meiner Sicht kurz zusammenfassen:
Leider musste der erste Vortrag „Kapitalismus und Krise“ wegen Krankheit ausfallen.
Mit dem Vortrag „Organizing und Selbstorganisation“ von Rudolf Mühland, der in der FAU aktiv ist, startete die Vortragsreihe dafür umso lebendiger. Rudolf erklärte uns, was Organizing heißt, und welche Kritikpunkte er am Honorar-Organizing durch Dienstleistungsunternehmen für z.B. Gewerkschaften hat. Professionelle, angestellte Organizing-Leute werden von z.B. Gewerkschaften beauftragt, Arbeitskämpfe in Unternehmen zu entfachen oder zu unterstützen. Sie nehmen somit von außen Einfluss auf den Arbeitskampf, sie kämpfen mit, ohne dabei etwas verlieren zu können. Und im besten Fall für die Gewerkschaft werben sie dabei neue, zahlende Mitglieder an. Klar, sie bringen einen Koffer mit nützlichen Arbeitskampfmethoden mit, haben Erfahrung mit zahlreichen Arbeitskämpfen, die sie von außen begleitet haben. Aber: sie hatten nie selbst etwas zu verlieren bei ihrer Arbeit. Ihr Arbeitsplatz ist sicher, egal wie der Kampf ausgeht. Das kritisiert Rudolf. Er kritisiert, dass Arbeiter*innen nicht neutral (durch z. B. kostenlose Beratung von Vereinen zum Thema Organizing) im Arbeitskampf unterstütz werden, sondern Spielbälle der Gewerkschaften werden, heiß gemacht, um machbare Arbeitskampfziele mit Hilfe der Organizing-Dienstleister*innen erreichen zu können, um dann als Gewerkschaftsmitglied ihren zahlenden Teil zur Existenzsicherung der zahnlosen Tiger „Gewerkschaften“ beizutragen.
In der Diskussion nach dem Vortrag kamen wir dann darauf, dass es auch an anderen Stellen im politischen Handeln Probleme mit der Einflussnahme durch Institutionen und Parteien „von außen“ gibt. Von außen – das bedeutet für Rudolf ‚von Menschen mitbeeinflusst, die selbst nicht direkt vom Problem betroffen sind‘ (sinngemäßes Zitat). So würde er, wenn er z. B. seinen eigenen Mietwohnblock enteignen wollen würde, allen, die dabei helfen wollen, aber nicht selbst dort wohnen, ein herzliches ‚Verpiss dich‘ zu rufen.
Als Beispiel wurde in der Diskussionsrunde das Thema „Wohnimmobilienkonzerne enteignen“ gebracht. Diese Forderung und die dazugehörige Initiative von betroffenen Menschen in Berlin war sehr erfolgreich. Sobald die Forderung von Parteien wie Die Linke ins Wahlprogramm aufgenommen wurde, war die Forderung aber leider dem herrschenden demokratischen System ausgeliefert. Es wird in Zukunft maximal einen Kompromiss zu dieser Forderung geben, ausgehandelt zwischen allen mit Macht ausgestatteten Akteuren im Bereich Wohnimmobilien. Die Forderung an sich ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr durchsetzbar.
Am Ende waren sich die Diskutierenden einig: wer Forderungen Unbeteiligten überlässt, wirft die eigene Selbstermächtigung über Bord und riskiert das Aufweichen der Forderung im herrschenden System.
Daran anschließend wurde über eben dieses herrschende System in Deutschland gesprochen, über u.a. die nicht vorhandene Streikkultur und die Strukturen, die dieses unterstützen. Rudolf erklärte uns, dass z. B. der Generalstreik, der in Deutschland weitgehend verboten ist, auf Grundlage von internationalen Abkommen auch in Deutschland möglich ist. Es weiß nur niemand bzw. fällen Richter*innen wider derartiger Abkommen anderslautende Urteile in Deutschland.
Zu guter Letzt fragte eine Person aus der Diskussionsrunde, was Rudolf denn empfehlen würde, damit mehr Leute politisch handeln bzw. an politischen Veranstaltungen teilnehmen. Seine Antwort war einfach: konkret bleiben. Konkrete Vorhaben planen, Leute mit einbeziehen, Aktionen so planen, als wären es Geburtstagspartys oder Kinoabende; Leute machen bei dem mit, was sie kennen und wo sie sich wohl fühlen. Man muss die Menschen in ihrer Lebensrealität abholen.
Ein paar Tage später kam dann Frederick Fuß mit einem Vortrag zu „Warum wird alles teurer?“ nach Karlsruhe. Er macht mit beim Verlag Syndikat-A und schreibt u. a. bei TSVEYFL mit. Gut verständlich erzählte er uns, dass die Strom-, Öl- und Gaspreissteigerungen der letzten Monate nichts mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs bzw. mit echtem Mangel der Güter zu tun hatten. Vielmehr spielen schon lange bestehende Oligopole (wenige Anbietende einer Ware stehen vielen Nachfragende gegenüber) beim Benzin und Gas und Preisbildungsanordnungen wie die Merit-Order auf dem Strommarkt eine entscheidende Rolle bei den wider das Prinzip von der Preisbildung durch Angebot und Nachfrage extrem steigenden Preisen. Und die viel zitierte Lohn-Preis-Spirale gibt es einfach nicht, was Frederick uns mit Hilfe eines Redemanuskripts von Karl Marx »Lohn, Preis und Profit« von 1865 erklärte.
Am Ende fragte ich Frederick noch, ob solche Kampagnen wie „Solidarische Perspektiven“ überhaupt sinnvoll sind und er so etwas weiterführen würde. „Ja“ war die Antwort.
Am nächsten Tag ging es dann weiter mit Friederike Habermann, die einen Vortrag über „Commons“ im Gepäck hatte. Sie war u.a. viele Jahre Pressekoordination der globalen Vernetzung von Basisbewegungen „Peoples Global Action“ und ist heute an Vernetzungen solidarischen Wirtschaftens beteiligt, u. a. dem Commons-Institut mit Sitz in Bonn. Friederike gab uns einen umfassenden und mit Beispielen aus der Vergangenheit gespickten Eindruck darüber, wie der Kapitalismus und die Tauschlogik entstanden, und warum der Kapitalismus und die herrschenden Eigentumsverhältnisse gegen die menschlichen Bedürfnisse gerichtet sind, gegen die begrenzt verfügbaren Ressourcen auf dieser Welt und gegen eine lebenswerte Zukunft. Außerdem stellte sie uns als Gegenentwurf zum Bestehenden das Prinzip „Commons“ vor, ein soziales Verhältnis zwischen Menschen, bei dem nicht ein Mensch auf Kosten anderer mehr Macht, Güter und Freiheit erhält, sondern ein Verhältnis, in dem alle Menschen frei und kooperativ leben, unter Rücksichtnahme auf den Einfluss eigenen Handelns auf andere und die Welt.
In der Diskussionsrunde wurde lange und emotional über den Nutzen und die Machbarkeit von emanzipatorischen Gesellschaftsentwürfen und Revolutionen im Allgemeinen geredet: sind wir nicht mit unseren Vorstellungen von der Zukunft, mit unseren Ansichten von notwendiger Veränderung in der Welt und unseren konkreten Ideen zur Umsetzung relative alleine, eingekuschelt in unserer Wohlfühlblase aus den immer gleichen Menschen an den immer gleichen Orten? Wollen die Menschen außerhalb der Blase überhaupt „unsere“ Veränderungen? Und macht es überhaupt Sinn, sie davon zu überzeugen, dass die Veränderung der Verhältnisse in den allermeisten Fällen zu ihrem Besten wäre? – wir wurden uns hierzu nicht einig.
Mit schon ein wenig betrübter Stimmung wurde dann doch noch etwas gesagt, was zumindest mir als Antwort auf diese Fragen genügte: wir machen das hier alles auch aus SELBST- bzw. Eigennutzen! Die eigene Denkweise, auf der die eigene Handlungsweise beruht, kann gut an geschützten Orten verändert und ausprobiert werden. Zusammen ist man weniger alleine. Es entlastet die Psyche, wenn der als falsch empfundenen Welt ab und an entkommen werden kann; an Orte und mit Menschen, die sich auch nach einer anderen Welt sehnen. Und im Sinne des Graswurzelgedankens – irgendwo muss Veränderung ja anfangen, um sich zu verbreiten.
Mit Hoffnung auf weitere Veranstaltungen dieser Art in Karlsruhe – eine Teilnehmerin.