Seit der öffentlichen Wahrnehmung der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Unsicherheit auf Grund ihres Ausmaßes und ihrer Folgen für die Gesellschaft, erlebt ein altes Wort ein Come-Back ungeahnten Ausmaßes. Die Solidarität.
Inzwischen ist sie in aller Munde. Eingefordert von Politiker*innen aller Couleur, strukturiert über soziale Netzwerke. Ihre Formen reichen von applaudierenden und musizierenden Menschen über das Nähen von Schutzartikeln, Einkaufshilfen bis hin zur Obdachlosenhilfe und sogenannten Gabenzäunen.
In vielen Texten werden diese in kürzester Zeit aufgebauten Strukturen hoch gelobt, sie werden in Zukunftsszenarien eingebaut und in teilen der Medienlandschaft gar eine grundsätzliche Veränderung der bestehenden Gesellschaftsstruktur herbei phantasiert.
Der hiesige Text möchte mit dieser Illusion brechen, einen äußerst kritischen Blick auf diese „Solidaritätsstrukturen“ werfen und aufzeigen, dass hinter der Worthülse der Solidarität nichts weiter als die Aufrechterhaltung der sogenannten öffentlichen Ordnung und des bestehenden neoliberalen Systems steckt.
In den letzten Wochen haben sich verschiedenste Netzwerke gebildet. Ihr Ziel ist es in erster Linie die Menschen zu unterstützen, die sogenannten Risikogruppen angehören, oder in dieser Krisenzeit besonders betroffen sind. Dazu gehören in erster Linie alte und kranke Menschen, sowie Obdachlose.
Diese Netzwerke sind der Teil, auf den die größte Hoffnung gesetzt wird, dass sie sich nachhaltig bewähren könnten, oder gar zu einer gesellschaftlichen Veränderung beitragen könnte.
Wer sich diese Netzwerke genauer ansieht, taucht tief in die heutige Zeit der sozialen Medien und dem damit verbundenen Konkurrenzstreben ein. Hinzu kommt, dass ein Begriff derart missbräuchlich verwendet wird, dass am Ende kaum etwas seiner eigentlichen Bedeutung übrig bleibt. Der Begriff der Solidarität wird in seiner Bedeutung quasi durch charity ersetzt.
In den sozialen Netzwerken übersteigern sich einzelne Menschen in ihrer Selbstdarstellung, wie sie sich doch für diese Gesellschaft einsetzen. Mit Fotos, Videos und am Besten noch solcher, in denen die „Ärmsten“ ihnen ihren Dank ausdrücken. Dieser Dank, egal ob durch Bedürftige oder Mitstreiter*innen ausgedrückt, scheint für einige das Hauptziel zu sein. Ganz im Sinne des Neoliberalismus darf sich so ein Engagement in die Vita eintragen lassen und mensch kann sich gleich besser fühlen.
Bleibt der Dank aus, oder die Bedürftigen lassen sich nicht nach gusto helfen, wie es sich die Helfer*innen ausgedacht haben, ist der Groll groß. Kann mensch sich ja nicht ausdenken, dass die Armen nicht alles Essen, was ihnen vorgesetzt wird oder gar noch eine eigene Vorstellungskraft besitzen.
Dieses Problem dürfte sich jedoch relativ schnell in Luft auflösen. Viele dieser Netzwerke haben schon von Anfang klar gemacht, dass sie nach überstandener Krise selbstverständlich wieder aufgelöst werden. Ganz so, als hätte es vor Corona keine Bedürftigen gegeben und als würde sie es auch danach nicht geben.
Es ist für die meisten wohl doch zu viel Arbeit, neben Familie und Beruf dauerhaft für andere in der Gesellschaft einzustehen. Zudem hält sich der gebührende Dank außerhalb der „Corona-Krise“ sehr in Grenzen.
Am Anfang dieser „Solidaritätswelle“ standen vor allem die Aufrufe einiger Regierungsmitglieder und weiterer Politiker*innen.
Doch statt praktische Solidarität zu üben, wurde der Begriff für Durchhalteparolen und eine steuerliche Umverteilung von unten nach oben missbraucht.
Die politische Riege lässt sich dafür feiern, den kleinen Leuten klar gemacht zu haben, dass sie sich selbst unterstützen müssen, dies auch tun und noch nichtmal stinkig sind, dass das Steuergeld in erster Linie zur Unterstützung von Großunternehmen verteilt wird. Wohlgemerkt in unbegrenzter Höhe.
In dieser Umverteilungskampagne haben anfangs selbst die großen Wohlfahrtsverbände und mittelständische Unternehmen das Nachsehen gehabt. Erst einiger Protest und die Lobbyarbeit großer Verbände sorgte dafür, dass später fast alle, die auf irgendeine Weise Arbeit schaffen an den sogenannten Rettungspaketen beteiligt wurden.
Als Akt der Solidarität wurde auch dies verkauft. Das Geschenkte Geld für Großkonzerne, das hinterher steuerlich absetzbar ist, bis zu teuren Krediten für Kleinunternehmen, die selbst in Krisenzeiten für ihr überleben bezahlen müssen. Kurz vor Schluß gab es dann gar noch einen kleinen „Bonus“ für die Arbeitnehmer*innen sogenannter systemrelevanter Berufe. Für deren Arbeitgeber natürlich völlig absetzbar.
Und der Rest der Bevölkerung? Erleichterung der Kurzarbeit und kurzzeitig erweiterter Mietschutz bei Zahlungsunfähigkeit. Die Kosten bleiben hängen, die Zeit vergeht.
Saskia Esken forderte eine einmalige Vermögensabgabe von 5% auf Vermögen über einer Million Euro. Und sofort wurde der antikommunistische Beißreflex aktiv. Das eigentliche Problem, es würde genau die treffen, die angeblich Arbeitsplätze schaffen, die Wirtschaft nach der Krise ankurbeln könnten und deren Unternehmen sowieso schon angeschlagen sind. In Wirklichkeit geht es jedoch darum, dass dieses Vorgehen ein Paradigmenwechsel darstellen würde. Eine kleine Umverteilung in die andere Richtung. Einmalig sollte dies geschehen, nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein und für manche die große Angst vor einem Umsturz.
Genau vor dieser Umverteilung, im Endeffekt eine Umverteilung der Schulden auf die Gesamtbevölkerung befürchtet unter anderem die Bundesregierung, wenn es um die von Italien und weiteren südeuropäischen Ländern eingeforderten Eurobonds geht.
Deutschland möchte keine Solidarität zeigen. Nicht in den letzten Monaten und auch nicht jetzt.
Schon früh wurden die ersten Grenzkontrollen in Bayern und Baden-Württemberg eingeführt. Das Zurückhalten von Medikamenten, die kurzzeitig als möglich wirksam diskutiert wurden. Und das lange Zögern, als es um die Aufnahme Kranker in deutsche Krankenhäuser ging.
Wenn es nach der Bundesregierung geht, ist mit der vorübergehenden Aussetzung der europäischen Schuldenregelung und einem neuen Schutzschirm, der den Geberländern die Einforderung von Bedingungen einräumt, alles getan. Unbezahlbare Schulden für die einen. Macht und Geld für die anderen.
Wo ist die Solidarität geblieben, von der in den letzten Wochen alle reden und schreiben?
Das erste Problem ist, dass, ob bewusst oder unbewusst, der Begriff der Solidarität mit Wohlfahrt gleichgesetzt wird.
Die Beispiele aller drei Ebenen zeigen, dass es sich bei allen nur begrenzt um solidarische Akte handelt. Die Kritik zeigt auf, dass die aufgelisteten Taten in vielen Fällen nicht selbstlos sind. Sie fordern stets eine Gegenleistung ein. Diese Vorstellung entspricht dem neoliberalen Zeitgeist, in dem sich selbst das Elend verkaufen lässt. Ob für persönliche oder wirtschaftliche Zwecke.
Diesem durchweg negativen Eindruck soll am Ende ein kleiner Lichtblick folgen.
Die gegenwärtige Situation lädt ein sich bewusst zu werden, wie die Gesellschaft gegenwärtig strukturiert ist und wo ihre Grundlagen sind.
Wenn wir erkennen, dass solidarisches Handeln sich nicht an Aufforderungen und Gefühlslagen orientieren kann, wenn wir erkennen, dass die Krise für viele Menschen alltäglich ist und die Zeit der Pandemie lediglich die Probleme konzentriert und verstärkt, wenn wir erkennen, dass einmalige Zuschlagszahlungen aus Steuergeldern und zeitliche Problemverschiebungen niemals Lösungsansätze sind, dann haben wir die Möglichkeit durch solidarisches Handeln die Gesellschaft zumindest ein Stück weit verändern. Fordern wir gerechte Löhne und Arbeitsbedingungen für alle und jederzeit. Zeigen wir, dass Mindestlöhne nur dann Sinn machen, wenn sie für alle gelten. Zeigen wir, dass Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit Konsequenzen unseres egoistischen Gesellschaftsmodells sind und wir mit den Betroffenen solidarisch sind, täglich. Zeigen wir, dass wir die Umverteilung von unten nach oben nicht weiter mitmachen. Zeigen wir, dass unsere Solidarität nicht an fiktiven Grenzen endet und zeigen wir, dass wir niemanden in unserem solidarischen Handeln vergessen.
… dann bestimmen wir zusammen, wohin unsere Zukunft und die unserer Gesellschaft geht und wir doch etwas von Solidarität verstehen.